13. Juli 2021, 20:02 Uhr

17 Regeln für den Ausstieg

Wer dem Rechtsextremismus den Rücken kehren will, dem bietet das Land Hilfe an. Der Ausstieg kann Jahre dauern, denn oft müssen viele Probleme bewältigt werden, wie die Leiterin des Programms »IKARus« berichtet.
13. Juli 2021, 20:02 Uhr
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Von DPA
Das Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten »IKARus« registriert in den vergangenen Jahren eine steigende Nachfrage. Seit der Gründung im Jahr 2003 sind rund 80 Frauen und Männer bis zum Ausstieg betreut worden. FOTO: DPA

Kontaktabbruch, keine rechte Demo und kein Rechtsrockkonzert mehr - die 17 Regeln, die Aussteiger aus der rechten Szene unterschreiben, wenn sie am Landesprogramm »IKARus« teilnehmen wollen, sind klar und streng. Im Gegenzug bietet der Staat Hilfe auf vielen Ebenen an, darunter Unterstützung bei der Suche nach Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und bei Suchtproblemen. Manche erhalten jahrelange Begleitung auf dem Weg in ein normales Leben. Ihre rechte Einstellung wurzelt oft in der Biografie, wie die Leiterin des Programms, Marion Hohmann, sagt.

»IKARus« steht für »Informations- und Kompetenzzentrum Ausstiegshilfen Rechtsextremismus« und ist dem Landeskriminalamt angegliedert. Es ist nach Angaben Hohmanns das einzige bundesweit, das zur Polizei gehört - ein Vorteil, wie die Kriminalbeamtin sagt: So könnten alle Angaben zu Straftaten direkt überprüft werden. »Wir können auch Sicherheit und Schutz bieten, wenn wir eine Person haben, die als gefährdet eingestuft ist oder bedroht wird.« Dass Aussteiger vor ehemaligen Kameraden geschützt werden müssten, sei aber die Ausnahme.

Neben Leiterin Hohmann zählt »IKARus« fünf Kriminalbeamte. Die Nachfrage ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Grund sei der höhere Bekanntheitsgrad unter anderem bei den Institutionen, die mit dem potenziellen Klientel zu tun haben, wie Bewährungs- und Jugendgerichtshilfen und die Polizei selbst. Seit der Gründung im Jahr 2003 seien rund 80 ehemalige Rechtsextreme bis zum Ausstieg betreut worden. Im Schnitt würden parallel bis zu 20 Aussteiger und Aussteigerinnen beraten. Diese seien meist zwischen 20 und 35 Jahre alt, derzeit steige der Schnitt. Auch über 60-Jährige seien dabei.

Hauptsächlich handele es sich um Männer mit meist geringem Bildungsstand, oft sind sie arbeitslos. Doch auch Studenten und Hochschulabsolventen gebe es darunter. Viele Teilnehmer kommen aus zerrütteten Familien, der Vater war nicht anwesend oder gewalttätig.

»Zwar sagt man, ›Ein guter Deutscher säuft nicht und nimmt auch keine Drogen‹, aber wir haben viele Klienten mit Alkoholproblemen oder Drogenproblem«, sagt Hohmann. Zum Programm gehört ein Persönlichkeitstraining. Um szenetypische Tattoos zu ändern oder entfernen, kann es finanzielle Hilfe geben. Gegenleistung wäre dann beispielsweise Mitarbeit in einer Holocaust-Gedenkstätte.

Immer mehr Gewalt von rechts

Die Beamten gingen auch direkt auf Szenemitglieder zu, sagt Hohmann: »Uns ist ganz selten die Tür vor der Nase zugemacht worden.« In zwei Fällen sei es bisher zum Rückfall mit einschlägigen Straftaten gekommen. Auch Abbrecher gebe es, ebenso wie Klienten, die das Programm wegen Regelbruchs verlassen mussten.

Ein Thema war »IKARus« auch beim Prozess um den rechtsextrem motivierten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilte Angeklagte Stephan Ernst hatte davon berichtet, mit »IKARus« in Kontakt zu stehen.

Der vergangenen Oktober vorgestellte Jahresbericht des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) 2019 warnt vor steigender Gewalt von rechts und einer wachsenden Szene. In dem Jahr wurde Lübcke erschossen, auch auf einen Mann aus Eritrea war im osthessischen Wächtersbach geschossen worden. Im Jahr darauf wurden neun Menschen mit Migrationshintergrund beim rassistischen Anschlag von Hanau ermordet.

Die Zahl als gewalttätig, gewaltbereit, gewaltunterstützend und gewaltbefürwortend eingestufter Rechtsextremisten stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr nach Erkenntnissen des LfV deutlich um 160 auf 840. Von den mehr als 1000 extremistischen Straf- und Gewalttaten wurden 886 Rechtsextremisten zugeordnet. Aktenkundig wurden allein 803 rechtsextremistische Propagandastraftaten.

Szene bietet einfache Antworten

»IKARus«-Leiterin Hohmann sagt, der Einstieg in die Szene erfolge nicht aus ideologischen Gründen, eher auf der Suche nach Geborgenheit, Anerkennung, Wertschätzung oder Schutz. »Wir hatten mal eine Klientin, die wurde von ihrem gewalttätigen Vater durch die Straßen getrieben und in dem Ort gab es eine kleine rechtsextreme Gruppe, die hat das gesehen und ihr geholfen.« Die rechte Szene biete zudem einfache Antworten auf komplexe gesellschaftliche Fragen wie »Hätte sich der Lehrer nicht so viel um die ausländischen Schüler gekümmert, hätte ich die Schule gepackt.«

Bevor Rechtsextreme den Weg zu »IKARus« suchen, gebe es meist eine Drucksituation: Es drohe Haft, es gebe Ärger mit dem Arbeitgeber oder in der Partnerschaft werde der Ausstieg gefordert. Oder es kämen Zweifel an der Ideologie auf. Ehemalige Kameraden oder Straftaten müsse niemand benennen. Die Teilnahme ist freiwillig: »Wir machen keine Gehirnwäsche. Wenn jemand nicht will oder nicht in einer Situation ist, die er verändern möchte, dann werden wir auch nichts bewirken«, sagt Hohmann.



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