Für das allgemeine und gleiche Wahlrecht aller Bürgerinnen und Bürger haben die Aufklärer lange gekämpft. Wie der legendäre amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 bei seiner berühmten »Gettysburg Address« sagte, soll es in der Demokratie »eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk« geben. In Deutschland wurde dieser Anspruch erst mit dem vollen Wahlrecht für Männer und Frauen 1919 mit der ersten Volksabstimmung zu Beginn der Weimarer Republik realisiert. Leider wird aktuell die Regierung, streng genommen, nur noch »durch« einen Teil des Volkes gewählt, bei Bundestagswahlen zum Glück vom größeren, bei Kommunalwahlen aber fast schon vom kleineren Teil. Während der scheidende Bundestag 2017 von immerhin 76,2 Prozent der Wahlberechtigten gewählt wurde, lag die Beteiligung bei der hessischen Kommunalwahl im am 14. März in Frankfurt bei 45,1 Prozent und in Kassel bei 43,71 Prozent.
Negativtrend ist drastisch
Man könnte sagen, dass dies speziell bei der Bundestagswahl, auch im Vergleich zu andern Ländern, gar keine so schlechte Bilanz ist, aber Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, befürchtet, dass die sinkende Beteiligung bei Kommunalwahlen auch irgendwann auf die höhere Ebenen der Landtags- und Bundestagswahlen durchschlagen kann. »Einige könnten sich daran gewöhnen, nicht mehr zur Wahl zu gehen«, sagt Güllner.
Bereits jetzt ist der Negativtrend bei Kommunalwahlen über einen längeren Zeitraum betrachtet drastisch: Vor rund 40 Jahren lag die Wahlbeteiligung in Hessen noch bei fast 80, jetzt bei gut 50 Prozent. Bei Bundestagswahlen sank sie im gleichen Zeitraum nur um 14 Prozent.
Güllner führt die geringe Beteiligung an Kommunalwahlen auch auf den durch Kumulieren und Panaschieren komplizierten Wahlvorgang zurück. »Da fühlen sich manche überfordert, das schreckt ab«, meint der Professor. Um das Interesse an Politik vor Ort zu erhöhen, empfiehlt Güllner den Parteien, sich mehr auf der kommunalen Ebene zu engagieren, »und das nicht nur direkt vor der Wahl«.
Das sieht der Frankfurter Politikwissenschaftler Thomas Zittel ähnlich. Er sagte unlängst bei einer Podiumsdiskussion, die Parteien müssten sich dringend mehr um die konkreten Probleme vor Ort kümmern. Nur so wäre gerade der schwindenden Wahlbeteiligung in ärmeren Vierteln wirkungsvoll zu begegnen. Und damit ist das qualitative Problem benannt, das für die Demokratie noch viel gravierender ist als das quantitative. Da die Wahlbeteiligung in den verschiedenen Schichten unterschiedlich ausgeprägt ist, entsteht ein Repräsentations- und letztlich auch Gerechtigkeitsdefizit. In eher wohlhabenden Stadtteilen ist die Wahlbeteiligung oft doppelt so hoch wie in ärmeren. Das führt zu einem Teufelskreis: Die Menschen in ärmeren Stadtteilen wählen oft nicht, weil sie sich nicht »gehört fühlen« (Güllner). Da die Beteiligung so niedrig ist, dass sich für die Parteien auch in Nicht-Corona-Zeiten ein intensiver Häuser-Wahlkampf kaum lohnt, werden die Sorgen und Nöte der Benachteiligten weniger wahrgenommen - und von der Politik eher als Fürsorgefall behandelt. Im Ergebnis nimmt der Frust weiter zu.
Ein Blick nach Kassel zeigt die enormen Unterschiede. Bei der letzten Kommunalwahl lag die Wahlbeteiligung in den gut situierten westlichen Wohngebieten über dem Durchschnitt von 43 Prozent, angeführt von Brasselsberg (59,6 Prozent), Jungfernkopf (59,2 Prozent) und Bad Wilhelmshöhe (56,7 Prozent). Gut beteiligten sich auch die urbanen Viertel, der Vordere Westen (56,4 Prozent), Wehlheiden (52,9 Prozent) und die Südstadt (49,7 Prozent). Die geringste Wahlbeteiligung gab es in den multikulturellen Stadtteilen Wesertor (25,9 Prozent) und Waldau (25,8 Prozent) sowie in dem industriegeprägten einstigen Arbeiterviertel Rothenditmold (23,5 Prozent).
Geringes Interesse trifft vor allem SPD
Ähnliche Situationen gibt es in Frankfurt, wo die Spannweite zwischen dem klassischen Arbeiterviertel Fechenheim (28,4 Prozent) und Nieder-Erlenbach (59,2 Prozent) oder zwischen Griesheim (32 Prozent) und dem bürgerlich-alternativen Sachsenhausen-Nord (52 Prozent) gewaltig ist. Es fällt auf, dass gerade in ärmeren Stadtvierteln mit hohem Migrationsanteil die Beteiligung auch bei wahlberechtigten Bürgern niedrig ist. Das könnte auch daran liegen, dass diese sich isoliert fühlen und weniger verbindende Milieus als früher haben. Gesellschaftliche Anker wie Gewerkschaften oder Kirchen spielen keine große Rolle mehr.
Die geringe Wahlbeteiligung schmerzt besonders die SPD, die mit der Linkspartei am ehesten die Interessen der betreffenden Klientel vertritt. Tatsächlich erzielt sie in jenen Stadtvierteln auch noch relativ gute prozentuale Ergebnisse. Das zahlte aber wegen der wenigen absoluten Stimmen auf das Gesamtwahlergebnis kaum ein. Dies gilt nicht nur für Hessen, sondern auch für Städte wie Essen und Köln, die bei Einkommen und Wahlbeteiligung geradezu in zwei Hälften zerfallen. Während also CDU, FDP und Grüne in »ihren« Stadtvierteln ausreichend Stimmen holen, schöpft die SPD ihr Potenzial kaum aus. Laut Güllner ist sie allerdings selbst schuld an ihrem Dilemma. Die Parteispitze habe sich von ihrer Klientel entfremdet. »Statt sich um die Probleme ihrer Leute zu kümmern, engagiert sich die Parteivorsitzende Esken lieber für Themen wie gendergerechte Sprache, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird.«