08. Juli 2021, 21:00 Uhr

Von guten und von schweren Zeiten

Anita Unkel ist angekommen. Sie hat sich die Träume ihrer Jugend erfüllt. Zwar später als gewünscht und etwas anders als gedacht. Aber sie ist dann doch noch in die Welt hinausgezogen, hat viele Länder gesehen. Heute erzählt sie von einem erfüllten Leben und von Herzenswärme, aber auch von Schicksalsschlägen.
08. Juli 2021, 21:00 Uhr
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Von Burkhard Bräuning
Anita Unkel und ihr Mann Wolfgang sind seit 53 Jahren verheiratet.

Manche Frauen (und Männer) kokettieren mit ihrem Alter. Anita Unkel nicht. Sie sagt: »Ich bin 1945 geboren, in einem Jahr, in dem die Welt in Trümmern lag und niemand verschont blieb von dem furchtbaren Krieg.« Auch in ihrem Heimatdorf Steinbach, heute ein Ortsteil von Fernwald, habe man die Not gespürt, gab es Trauer. Und da war die stetige Angst, dass der Vater, der Sohn, der Bruder nicht von der Front zurückkehrt. Wie in vielen Familien, waren auch bei den Unkels die Ängste berechtigt. Nach der Geburt der kleinen Anita breitete sich in ihrem Elternhaus bald große Traurigkeit aus: Der Onkel wurde als vermisst gemeldet. Und er sei dann auch »im Krieg geblieben«, wie man so sagt, ohne darüber nachzudenken, was das für die Angehörigen bedeutet. »Besonders für meine Oma, meine Tante und meine Mutter war das ein harter Schlag.«

Unkels erste eigene Erinnerungen gehen zurück in die Zeit Anfang der 1950er Jahre. »Und ich kann sagen: Ich hatte eine unbeschwerte Kindheit. Von den Sorgen der Erwachsenen in der Familie wussten wir nichts.« In der Volksschule in Steinbach sei sie gut zurechtgekommen. Als die Familie nach Gießen umzog, machte Unkel an der Schillerschule ihren Realschulabschluss, absolvierte danach eine Ausbildung als Apothekenhelferin, wie man den Lehrberuf damals noch nannte. »Mit 19 bin ich von zu Hause weg, das war damals noch sehr ungewöhnlich.« In Bad Nauheim nahm sie eine Stelle in einer Apotheke an. »Es sollte nur vorübergehend sein«, sagt sie und lacht. »Denn ich wollte hinaus in die weite Welt.« Doch es kam anders. Die Liebe kam dazwischen. »Ich lernte einen jungen Mann kennen. Und es war mir schnell klar, dass er der Mann meines Lebens ist.« Sie blieb in Bad Nauheim, und das hat sie bis heute nicht bereut. Man könnte ihr weiteres Leben dann etwa so kurz zusammenfassen: Hochzeit, Geburt der beiden Töchter, Geburt der drei Enkelkinder, soziales Engagement. Dazu das Reisen in viele Länder, raus in die Welt eben, so, wie sie es sich ja auch gewünscht hatte. Doch so einfach, so eingleisig war es nicht. Es gab, kurzgefasst, auch Abschiede, Trauer, Leid, Sorgen und Nöte. Und das alles brachte sie mit zunehmendem Alter auch zum Nachdenken über ihr eigenes Leben. Letztlich führte es unter anderem dazu, dass sie sich im Hospizdienst Wetterau engagierte. »Ich spürte, dass ich Menschen eine Hilfe sein konnte, wenn ich sie in ihrer letzten Lebensphase begleiten durfte. Das hat mich verändert. Ich bin dankbarer geworden für mein eigenes Leben. Und demütiger.« Heute ist Anita Unkel Vorsitzende des Hospizdienstes Wetterau. Über ihre Arbeit dort gäbe es viel zu erzählen, traurige, aber auch Mut machende Geschichten. Aber vieles ist eben ganz privat und persönlich. Anonymisiert erzählt sie aber beispielhaft die Geschichte eines Mannes, der einige Jahre vor dem Rentenalter schwer erkrankte. Mehrere Organe waren betroffen, und er konnte nicht mehr sprechen. Die Mutter, über 80 Jahre alt, pflegte ihn. Dann starb sie und der Mann musste in ein Pflegeheim. »Wir haben damals, es war im Frühling, gedacht: Er wird bald sterben. Doch er hielt durch bis in den Spätsommer. Als er 60 wurde, hatte er sein Ziel erreicht: Er ließ los - und starb. Das hat uns damals alle sehr berührt.«

Der Tod ist allgegenwärtig in unserem Leben, aber wir blenden das Thema gerne aus, nehmen es bewusst nicht wahr. Nur dann, wenn es uns nah kommt, uns selbst oder die Familie betrifft. Anita Unkel begleitet Menschen, die im Sterben liegen, hält ihre Hand, singt, liest ihnen vor, spricht und betet mit ihnen. Sie glaubt an Gott, »er gibt mir Zuversicht«. Sie habe keine Angst vor dem Tod.

Sie trauert, wenn Menschen, um die sie sich kümmert, sterben. Aber der Tod zweier Freundinnen, mit denen sie lange durchs Leben gegangen ist, hat sie vor einigen Jahren schwer getroffen. »Das hat richtig wehgetan. Ich habe aber noch andere liebe Freundinnen, ich kenne sie zum Teil schon aus der Schulzeit.«

Ihre Arbeit im Hospizdienst lässt sie teilhaben an den Lebensgeschichten vieler Menschen. Ihr selbst sei mit zunehmendem Alter bewusst geworden, wie kostbar das Leben ist. Sie empfinde große Dankbarkeit für das, was war. Sie freue sich nun darauf, dass sie irgendwann auch wieder mit ihrem Mann verreisen kann.

Von Corona sind Anita Unkel und ihre Familie bislang verschont geblieben. Allerdings hat ein außergewöhnliches Erlebnis ganz eng mit der Pandemie zu tun. Eine Tochter lebt mit ihrer Familie in Neuseeland. Anita Unkel hat sie im vergangenen Jahr besucht, konnte einreisen, aber dann das Land nicht mehr wie geplant verlassen. »Es war für mich jetzt nicht so schlimm. Ich war ja nicht allein, wohnte bei einem Teil meiner Familie. Ich konnte Zeit mit zwei meiner drei Enkelkinder verbringen. Allerdings saß mein Mann allein zu Hause. Er kann gut für sich sorgen, hat viele Freunde. Nur treffen konnte er sie wegen des Lockdowns leider nicht. Aber er weiß sich zu beschäftigen. Ich war letztlich vier Monate in Neuseeland. Eine kleine Ewigkeit.« Da braucht man Geduld. Und die schaute sie sich von den Neuseeländern ab. »Ich habe die Menschen dort als herzlich, als ganz besonders kennengelernt. Sie nehmen sich Zeit für ein Gespräch, bleiben nicht an der Oberfläche. Und sie sind diszipliniert. Wenn sie in einer Schlange stehen, dann gibt es kein Gedränge und Geschubse. Jeder wartet geduldig, bis er dran ist.«

Sie sei ein Familienmensch, sagt Unkel. Deshalb rage, neben einer langen und glücklichen Ehe und der Geburt der beiden Töchter, etwas heraus aus den schönen Dingen ihres Lebens: Die drei Enkel aufwachsen zu sehen. Ihre Lebensträume seien in Erfüllung gegangen, sagt sie. Ein Lebensmotto habe sie nicht. Sie möchte weiter neugierig auf das Leben sein - und offen für neue Dinge. Und da, so sagt ihr Mann Wolfgang, »wird sie sicher immer was finden«.



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