05. Dezember 2018, 22:05 Uhr

Hänel: »Kompromiss reicht nicht«

Ihre Verurteilung wegen »Werbung« für Abtreibung ist ein Stresstest für die Große Koalition. Nun schaut Kristina Hänel gespannt nach Berlin. Am Montag wollen SPD und CDU das Ergebnis ihres Ringens um den Paragrafen 219a verkünden. Das Landgericht erklärt indes, er sei nicht mehr zeitgemäß. Ein Indiz: Die »Ehe für alle«.
05. Dezember 2018, 22:05 Uhr
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Von Karen Werner
Bei der Kundgebung vor dem Landgericht im Oktober unterstützte auch der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel die Ärztin Kristina Hänel und ihre Kampagne für das Informationsrecht von Frauen zum Schwangerschaftsabbruch. (Foto: Schepp)

Der Richter äußert Verständnis für die Angeklagte und verurteilt sie trotzdem: Wie passt das zusammen? Das haben sich Beobachter der Berufungsverhandlung der Ärztin Kristina Hänel im Oktober vor dem Gießener Landgericht gefragt. Nun liegt die Urteilsbegründung vor. Der Vorsitzende Richter Dr. Johannes Nink meint unter anderem, die »Ehe für alle« markiere eine Abkehr vom vorrangigen Schutz des Kindes. Auf den gesellschaftlichen Wandel müsse nicht die Justiz, sondern die Politik reagieren.

Seit Monaten wird in Berlin gerungen um den Strafgesetzbuch-Paragraf 219a, der »Werbung« und Information zu Schwangerschaftsabbrüchen verbietet. Am Montag (10. Dezember) will die Große Koalition ein Ergebnis präsentieren. Die SPD hatte im Frühjahr einen Gesetzentwurf zur Streichung vorgelegt, aus Rücksicht auf den Koalitionspartner CDU/CSU aber wieder zurückgezogen. Die Union pochte bisher auf den Erhalt des Paragrafen: Auf keinen Fall dürfe Abtreibung als etwas »Normales« erscheinen.

Eine Einigung ist nicht unbedingt nötig. Möglich wäre eine Freigabe der Abstimmung aus Gewissensgründen. Eine Mehrheit für die Abschaffung des 219a wäre wahrscheinlich. Auch Grüne und Linke sind dafür, die FDP mindestens für eine Änderung.

Vorrang für »Recht auf kein Kind«?

Sachliche Informationen erlauben, Werbung im engeren Sinne verbieten: Reicht das aus? Nein, findet Hänel. »Wir sehen täglich, dass Frauen zu wenige Informationen haben«, erklärt sie auf GAZ-Anfrage. Der Paragraf und die Anzeigen radikaler »Lebensschützer« hätten dazu geführt, dass immer weniger Praxen und Krankenhäuser Abbrüche durchführen. Die Folge seien »teils verzweifelte Telefonate, Irrfahrten und Verzögerungen«, so Hänel. »Beim 219a macht es keinen Sinn, Kompromisse auszuhandeln, um irgendeinem politischen Kalkül gerecht zu werden. Frauen brauchen sachliche Informationen und Ärztinnen und Ärzte Rechtssicherheit.«

Die 62-Jährige und ihr breites Solidaritätsbündnis fahren ihre Kampagne zweigleisig. Sollte der Paragraf nicht im Parlament gestrichen werden, so will die Allgemeinmedizinerin bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Nachdem das Amtsgericht sie im November 2017 zu 6000 Euro Geldstrafe verurteilt hatte, war die Berufung am Landgericht für sie nur eine Zwischenstation. Sie hat erneut Rechtsmittel eingelegt.

Das Gericht hätte selbst eine Vorlage in Karlsruhe in die Wege leiten können. Doch der Paragraf sei seiner Ansicht nach nicht verfassungswidrig, schreibt Nink in seiner 15-seitigen Urteilsbegründung. Im übergeordneten Interesse des ungeborenen Lebens müssten Mediziner »Abstriche« bei ihrer Berufsfreiheit in Kauf nehmen.

Allerdings sei der 219a nicht mehr zeitgemäß. Ein Indiz sei die Homo-Ehe. »Die Ablösung der Sexualmoral von der Fortpflanzungsethik hat der Gesetzgeber mit der Öffnung des Schutzes von Ehe und Familie einschließlich des Adoptionsrechts für gleichgeschlechtliche Paare festgeschrieben und damit die dem Schutz des Kindes dienenden Bestimmungen des Grundgesetzes aus ihrer Ausrichtung auf das Kind herausgelöst und dem Recht der Erwachsenen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit den Vorzug gegeben«, erklärt der Richter mit Verweis auf einen Zeitungsartikel des Politologen Peter Graf Kielmannsegg. »An die Stelle des Rechts des Kindes auf den Schutz durch seine Familie und den dahinterstehenden Staat ist das Recht der Erwachsenen auf ein Kind getreten«, damit auch »das Recht auf kein Kind bei ungewollter Schwangerschaft«.

Ob die derzeitige Rechtslage Leben schütze, sei zweifelhaft, so Nink. Die Abtreibungszahlen im Verhältnis zu den Geburten seien jedenfalls seit Jahrzehnten »relativ gleichbleibend«. Eine Zunahme sei zu befürchten, wenn nun eine Reform ausbleibt – weil Frauen wieder häufiger für den Eingriff ins Ausland fahren und sich nicht beraten lassen.

Nink hatte Hänel bereits im Gerichtssaal den Rücken gestärkt: »Sie müssen das Urteil tragen wie einen Ehrentitel im Kampf um ein besseres Gesetz.« Seine Sympathie kommt auch in der schriftlichen Begründung zum Ausdruck. Er spricht von einer »Jagd« fundamentalistischer Abtreibungsgegner auf Ärztinnen und Ärzte. Die Weigerung der Gießenerin, das Wort »Schwangerschaftsabbruch« von ihrer Praxis-Homepage zu löschen, »verdient Respekt«, meint der Richter. Sie wolle »Rechtsklarheit« erreichen.



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