Was am Dienstagvormittag im Saal 200A am Amtsgericht Gießen verhandelt wurde, klingt verstörend - ein Familiendrama, das man niemandem wünscht: Am 9. März 2018 rennt die betagte Sahra H. mit Schnittverletzungen am Kopf auf die Straße vor ihrem Wohnhaus in Gießen. Sie gibt Passanten zu verstehen, ihr Sohn habe ihr das angetan, man müsse die Polizei rufen. Die in den 1950er Jahren in Afghanistan geborene Frau spricht kein Deutsch, ist Analphabetin und ungebildet, wie sie selbst sagt.
Auch der herbeieilenden Polizei machte sie klar, ihr Sohn habe sie angegriffen, sie mit einem Messer gestochen und es nach ihr geworfen. Der heute 22-Jährige wurde am selben Tag verhaftet und kam in Untersuchungshaft - über sieben Monate bis zum 19. Oktober 2018. Im Verfahren gegen ihn stellte sich heraus, dass er unschuldig ist. Dafür ist er bereits entschädigt worden.
Entscheidend im damaligen Prozess war das rechtsmedizinische Gutachten. Dr. Gabriele Lasczkowski von der Rechtsmedizin des hiesigen Uniklinikums trug die Erkenntnis nun abermals vor: Zwar seien die Bilder der Verletzungen von schlechter Qualität. Doch die oberflächlichen und parallelen Schnitte sowie Blutspuren »sprechen für ein ruhiges, statisches Geschehen«. Auseinandersetzungen seien in der Regel dynamisch und Verletzungen demnach unterschiedlich tief und schwer. Daher seien hier die »Kriterien einer Selbstbeibringung« erfüllt.
Es tue ihr »unendlich leid, dass es so weit kommen musste«, sagte Pflichtverteidiger Tomasz Kurcab stellvertretend für die Angeklagte, die zudem eine Dolmetscherin an ihrer Seite hatte. Ihren Sohn habe er bereits mehrfach verteidigt, dieser leide unter psychischen Problemen; es sei in der Familie schon öfter zu Gewalt gekommen, erläuterte Kurcab. Was konkret im Vorfeld der Tat geschah, wurde in der Verhandlung nicht geschildert.
Klar wurde aber, dass die augenscheinlich ängstliche und von dem Verfahren überforderte Mutter aus Verzweiflung über einen schwierigen Sohn gehandelt haben muss. Angesichts ihres späten Geständnisses wurde im Einverständnis auf die Anhörung ihres Kindes und weiterer Zeugen verzichtet. »Das müssen wir dem Sohn auch nicht antun«, betonte Richterin Sonja Robe.
Die monatelange Freiheitsberaubung und die Tatsache, dass Sahra H. auch während der Verhandlung gegen ihren Sohn bei ihren falschen Verdächtigungen blieb, bewog die Staatsanwaltschaft, eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung sowie eine Geldstrafe in Höhe von 1800 Euro zu monatlichen Raten von 50 Euro zu fordern. H. habe sich als Opfer einer Straftat ausgegeben, Behörden als »Erziehungsmaßnahme missbraucht« und sei sich bewusst gewesen, dass ihrem Sohn eine Haft drohe, sagte Staatsanwalt Benedikt Ulrich. Von einer Inhaftierung sah der Staatsanwalt angesichts ihres hohen Alters ab.
Bewährungszeit als Warnung
Verteidiger Korcab widersprach Ulrich in seinem Plädoyer, die Angeklagte habe bewusst Behörden missbraucht. »Sie wusste sich nicht mehr anders zu helfen.« Er sprach sich vor dem Hintergrund ihres niedrigen Bildungsstandes dafür aus, die Tat als »minderschweren Fall« zu betrachten. So forderte er eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten - und keine Geldstrafe, weil sie Sozialhilfe empfängt und nach sechs Jahren in Deutschland noch immer Asylbewerberin ist.
»So falsch und grausam es ist, wenn man so was als Mutter macht, so zeigt es doch, wie verzweifelt man bei so einer Tat sein muss«, erläuterte Richterin Robe ihr Urteil: ein Jahr und sechs Monate zur Bewährung. Damit behandelte sie die Tat als minderschweren Fall, betonte aber gleichwohl Vorsatz und Dauer der Freiheitsberaubung: »Wenn man immer wieder die falschen Vorwürfe gegen den Sohn wiederholt, will man auch, dass dieser weggesperrt wird.«
Doch das Verfahren und die Bewährungszeit von zwei Jahren würden als Warnung ausreichen, sagte Robe. »Sie müssen sich benehmen und dürfen keine Straftaten mehr begehen«, wandte sie sich mit Nachdruck an Sarah H., die trotz Dolmetscherin Probleme hatte, dem Verfahren und den Gepflogenheiten des deutschen Rechtssystems zu folgen. Darüber hinaus blieb Robe mit Rücksicht auf die finanziellen Umstände von H. deutlich unter der geforderten Geldstrafe des Staatsanwalts: 480 Euro zu monatlich 20 Euro an den Tierschutzverein Gießen. Zudem trägt die Verurteilte die Kosten des Verfahrens.