Viele lebten gut »bewacht«, Partnerschaften waren ein Tabu. Wenn Sexualität möglich war, verhinderten vorsorgliche Sterilisationen – oft ohne die Zustimmung der Betreffenden vorgenommen – eine Schwangerschaft. Inzwischen steigt die Zahl der Menschen mit geistiger Behinderung, die Eltern werden. Fast nie jedoch leben sie mit ihren Kindern als Familie zusammen. Das wäre eigentlich häufiger möglich und wünschenswert: Das war das Fazit des Thementags »Begleitete Elternschaft«.
Rund 70 Fachleute tauschten sich kürzlich auf Einladung der Gießener Lebenshilfe-Kreisvereinigung im Kleinlindener Bürgerhaus aus. Mit Bedacht habe man die Veranstaltung in Kooperation mit der Stadt Gießen, Kreis Gießen und Landeswohlfahrtsverband organisiert, erklärte Lebenshilfe-Vorstand Dirk Oßwald im Gespräch mit dieser Zeitung. Denn Ziel sei, gemeinsam ein »Netzwerk« der Beratung und Betreuung zu schaffen und die Finanzierung zu klären. Die Lebenshilfe strebe schon seit einigen Jahren ein besseres Angebot an und wolle das Thema nun verstärkt vorantreiben. Bei den Klienten der Kreisvereinigung gab es in den vergangenen 30 Jahren 21 Schwangerschaften, so Oßwald. »Nur in zwei dieser Fälle sind die Kinder bei ihren Eltern aufgewachsen. Allein diese Zahl zeigt, dass es an Unterstützung fehlt.«
»Das Kindeswohl steht immer an erster Stelle«, betonte Martina Ertel, Bereichsleiterin für Ambulante Hilfen bei der Lebenshilfe. Zugleich gilt die UN-Behindertenrechtskonvention, die festhält: »Menschen mit Behinderung haben ein gleiches Recht auf Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft wie Menschen ohne Behinderung.« Das Bundesteilhabegesetz schreibt das Recht auf Begleitung vor. In der Praxis wachsen die Kinder derzeit fast immer bei Pflegefamilien oder den Großeltern auf. Viele Säuglinge erleben in den ersten Jahren eine »Odyssee«, die ihre Entwicklung beeinträchtigt.
Das liege mitunter vor allem daran, dass sich »niemand zuständig fühlt«, beklagte Ertel. Ungeklärt sei unter anderem die Aufteilung der Kosten zwischen Eingliederungs- und Jugendhilfe. Ob sie Beratung annehmen, entschieden die werdenden Eltern selbst; ihnen gelte es »auf Augenhöhe« zu begegnen und »Entmündigung« zu vermeiden.
»Weder stimmt die Regel: ›Geistig Behinderte können keine Eltern sein‹ – noch: ›Geistig Behinderte können immer Eltern sein‹«, unterstrich Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter des Landeswohlfahrtsverbandes. Man müsse stets den Einzelfall betrachten. Erste Modelle für »begleitete Elternschaft« gebe es auch in Hessen. Derzeit betreue der LWV etwa 110 Fälle. Zehn dieser Kinder lebten in stationären Einrichtungen bei ihren Eltern, die anderen 100 bei Pflegefamilien mit Kontakt zu den Eltern.
Petra Thöne berichtete von den Erfahrungen der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Über 20 Jahre Vorarbeiten und acht Jahre »zähes Ringen« um eine Vereinbarung waren nötig, bis eine Eltern-Kind-Einrichtung mit 20 Plätzen entstand. Die Alltagsprobleme dort reichen von manchmal fehlender »emotionaler Schwingungsfähigkeit« der Eltern bis zur Scham älterer Kinder, die sich etwa wünschen, dass pädagogische Mitarbeiter zum Elternsprechtag in der Schule gehen.
Der Jugenddezernent des Landkreises Gießen, Hans-Peter Stock, plädierte für die frühzeitige Einbeziehung des Jugendamts schon vor der Geburt.