18. November 2020, 22:01 Uhr

Im Stich gelassen

Das historische 0:6 der deutschen Fußball- Nationalmannschaft am Dienstag in Spanien hat eine Debatte um den Bundestrainer Joachim Löw entfacht. Ist er noch der richtige Mann? Der DFB sagt ja - noch!
18. November 2020, 22:01 Uhr
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Aus der Redaktion
Die Schmach von Sevilla beschäftigt Bundestrainer Joachim Löw und Fußball-Deutschland. FOTO: IMAGO

Es gibt gerade ernsthaft komplexere Versuchsanordnungen, die einer Lösung harren, als die Probleme der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und ihres Dompteurs Joachim Löw. Andererseits ist eine Debatte über Trainer und Team ja auch eine ganz nette Abwechslung in diesen komplizierten Corona-Zeiten. Man kommt mal auf andere Gedanken. Und außerdem ist es auf den ersten Blick auch viel einfacher: Statt Inzidenzen in Relation zu Wochentagen zu mathematisieren und positive Testungen in Beziehung zu symptomatisch Getesteten zu kategorisieren, braucht man bloß Gegentore zu addieren, zugegeben ganz schön viele. Aber bis sechs zählen können sogar Erstklässler in Quarantäne.

Für die fußballfachlichen Schlüsse, die aus der debakulösen Nacht von Sevilla zu ziehen sind, braucht es hingegen ein wenig mehr Hirnschmalz und Zeit. Zeit, die der Bundestrainer gerade mal wieder reichlich hat. Wenn er sie denn gegeben bekommt und sich selbst noch gibt. Es ist anzunehmen und anzuraten, dass er von seiner in 16 Jahren im Hochamt lieb gewonnenen igelartigen alljährlichen Winterruhe ablässt und stattdessen die Monate Dezember bis Februar nutzt, um in der gebotenen Tiefe darüber nachzudenken, wie man den Kollektiv-K.-o. wieder aus den Klamotten kriegt.

Löw ist erfahren genug, um schon in der Nacht nach dem sportlichen Fiasko zu eralbträumen, welche Namen er in diesen unruhigen Tagen am häufigsten lesen wird: Müller, Boateng, Hummels. Oder andersrum. Hummels, Boateng, Müller. Oder so: Boateng, Hummels, Müller.

Hilflos am Spielfeldrand

Fast hätte man in den vergangenen Wochen glauben können, Löw und seine Leute seien den Deutschen schon ganz egal geworden. Aber ein 0:6 in dieser Form gegen Spanien zeigt dann doch, dass die Fußball-Nationalmannschaft es auf die Titelseiten schaffen kann. So ein Spiel wird beim geneigten Fan auch als persönliche Beleidigung empfunden, als Rücksichtlosigkeit geradezu. Man arbeitet sich gern an der Löw muss das jetzt aushalten. Oder er muss gehen, aber so sieht er trotz der Schmach nicht aus. Wenn er das täte, könnte der Weg zur Rückkehr der drei Musketiere Hummels, Boateng, Müller frei werden.

Schon einmal hat Löw eine vergleichbare Situation überstanden. Im Oktober 2012 war das, als Deutschland in der WM-Qualifikation gegen Schweden schon 4:0 führte, ehe in der Schlussphase noch vier Tore für die Nordländer fielen, derweil Löw hilflos am Spielfeldrand stand. Diesmal saß er im schwarzen Rollkragenpullover meist etwas in sich zusammengesunken, diesmal war das Desaster größer, weil diesmal der Gegner nicht bloß eine halbe Stunde lang, sondern volle 90 Minuten ein Spielchen der Lächerlichkeit mit den Deutschen trieb: 812 zu 349 gespielte Pässe, 23:2 Torschüsse, 70:30 Prozent Ballbesitz, 54 zu 46 Prozent gewonnene Zweikämpfe, am Ende ein 6:0 für die hervorragenden Iberer, das auch ein 9:1 oder 10:0 hätte sein können.

Das Land hätte Löw in diesem Kalenderjahr nur überzeugen können, wenn es gut zu Ende gegangen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Den Vertrauensvorschuss, den er den jungen Burschen gegeben hat, ist mit diesem einen Spiel fast schon aufgebraucht. Oder sogar ganz. Eine Mannschaft hat ihren Trainer im Stich gelassen. So viel steht mal fest.

Oliver Bierhoff hat noch am Abend ein wenig trotzig gesagt, die Qualität der jungen Spieler stehe »außer Zweifel«. Eine zumindest für die Abwehrleute eigenartige Erkenntnis. Die Diskussion um die Rückkehr von Müller, Boateng, Hummels? »Irgendwann sollte man auch mal akzeptieren, wenn es so entschieden ist.« Mit dieser Basta-Haltung des Managers ist es so eine Sache, wenn Fußballspiele derart verloren gehen. Löw kritisierte mangelhafte Kommunikation und Körpersprache - und Auflösungserscheinungen schon nach dem ersten Gegentor. Wenn all das geschieht, werden Rufe nach Anführern laut.

Löw bleibt nach Krisengespräch

Dennoch bleibt die Antwort auf die Frage, ob eine Rückkehr der Verstoßenen die richtige Konsequenz aus der Schmach ist, keine einfache. Genauso wenig, wie gewiss sein kann, ob Löw noch einmal Kraft, Hingabe und Finesse aufbringt, um diese Mannschaft, die ihn jetzt so sehr enttäuscht hat wie noch keine davor, zurück in die Spur zu bringen. Es gibt wohl mehr Menschen als je zuvor, die ihm das nicht mehr zutrauen.

Am Mittwoch sind aber DFB-Präsident Fritz Keller, Bierhoff und Löw übereingekommen, dass es weder eine Entlassung noch einen Rücktritt gibt. Für eine Beurlaubung hätte der DFB auch gar kein Geld mehr in der Kasse. Ein Weltmeister-Trainer ist nicht ganz billig. »Unsere junge Mannschaft kann an diesem herben Rückschlag wachsen, wenn dieses Spiel, in dem nicht nur Herz und Leidenschaft gefehlt haben, gründlich analysiert und die nötigen Folgerungen daraus gezogen werden«, äußerte Keller nach der Rückkehr.



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