31. Dezember 2022, 06:00 Uhr

Resümee für 2022

Kommentar: Gießen gemeinsam groß denken

Sven Nordmann vollzieht einen etwas anderen Rückblick auf das heimische Sportjahr 2022 - mit einer persönlichen Note und einem Wunsch: Lasst uns in Gießen endlich selbstbewusster werden.
31. Dezember 2022, 06:00 Uhr
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Von Sven Nordmann

Dutenhofen. Das musst Du Dir mal vorstellen: Aus so einem kleinen Kaff kommt ein Nationalspieler.« Sagt mir mein Kollege, als wir über Till Klimpke, den 24-jährigen Torhüter der HSG Wetzlar, sprechen. Den Klimpke, der Anfang 2022 als Schlussmann der deutschen Nationalmannschaft das Tor bei der Handball-EM hütet.

Ja, das muss man sich mal vorstellen: Lisa Mayer, die 26-jährige Sprinterin aus Niederkleen, wird im August 2022 Europameisterin mit der 4x-100-m-Staffel. Die Lisa Mayer aus dem Kaff in der Nähe von Langgöns.

Und dann läuft da noch diese Jana Becker, die 16-jährige Allrounderin aus Lauter, im Juli zur Vize-Europameisterschaft über die 800 Meter der U18. Das muss man sich mal vorstellen. Die Jana Becker aus dem Kaff nahe Laubach.

Vielleicht sollten wir anfangen, uns zu fragen: Wo sollen die Talente, die großen Heroen denn herkommen? Kommen sie ausschließlich aus Berlin, Hamburg und München? Oder nicht häufig vom »Dorf nebenan«?

Vielleicht spiegelt diese Sichtweise wider, weshalb wir uns in Gießen immer wieder kleiner machen, als wir sind. Weshalb wir am Ende dieses Sportjahres 2022 wieder dazu neigen, an den Abstieg des FC Gießen und der Gießen 46ers zu denken, anstatt uns über ihre Stabilisierungen in der neuen Klasse zu freuen.

Ja, nach über zwei Jahren Tätigkeit als Notvorstand würde man zum Jahreswechsel schon gerne erfahren, wieviel Turgay Schmidt den FC Gießen kostet.

Ja, nach dem unrühmlichen Ende von Geschäftsführer Sebastian Schmidt bei den 46ers fragt man sich schon, wann der nächste Heiko Schelberg an die Lahn kommt und den Traditionsstandort mit Zukunftsideen seriös vorantreibt.

Aber steht der FC Gießen nicht zur Winterpause auf Aufstiegskurs gen Fußball-Regionalliga Südwest? Haben sich die Gießen 46ers mit ihrem charismatischen Trainer Frenki Ignjatovic in der zweiten deutschen Basketball-Liga nicht gefangen?

Wo in Deutschland bekommt man diese sportliche Bandbreite geboten?

»Wann kriegen wir das in Gießen endlich mal gebacken?«, ist eine der häufigsten Fragen, die man gestellt bekommt, wenn es um die sportlichen Leuchttürme der Region geht. Vielleicht dann, wenn wir beginnen, uns groß statt klein zu machen.

Wo in Deutschland kann man an einem Standort von 15 Kilometern Radius gehobenen Basketball, Bundesliga-Handball und Fußball mit Abwechslung sehen? Vielleicht sollten wir Ende 2022 erkennen, was für ein Sportler-Herz in der Gießener Region steckt.

Als der FC Gießen vor einigen Jahren wie Phönix aus der Asche stieg und im Schnitt über 2000 Menschen ins Waldstadion strömten, wurde dieses Potenzial sichtbar. Die 46ers zählen längst zu den Traditionsstandorten im deutschen Basketball. Die HSG Wetzlar kratzte im Jahr 2022 lange am internationalen Geschäft und zählt seit 1998 zur Bundesliga.

Hinter den Big three im Mannschaftssport stechen einzelne Spitzensportler hervor

Hinter den Big three im Mannschaftssport stechen einzelne Spitzensportler hervor - auch im nun zurückliegenden Jahr. Nicht nur Lisa Mayer aus Niederkleen, Jana Becker aus Lauter oder Till Klimpke aus Dutenhofen. Auch Vincent Größer aus Fernwald, Silvia Ambrosio aus Gießen oder Liana Köhlinger aus Atzbach.

Triathlet Größer, 25 Jahre alt, nahm im Oktober unter anderem am legendären Iron Man auf Hawaii teil. Tennisspielerin Ambrosio, 25 Jahre alt, gewann im Dezember ihr erstes 25 000-Dollar-Turnier und zählt nun zu den 450 besten Spielerinnen der Welt. Schwimmerin Köhlinger, 15 Jahre alt, wurde fünffache Hessenmeisterin und gewann Bronze bei den »Finals« in Berlin.

Hinter den Big three tummeln sich viele weitere Gießener Kraftpakete auf hohem Niveau: Die TSG Wieseck etabliert sich zum Evergreen für gute Jugendarbeit, verpasst den Aufstieg in die B-Junioren-Bundesliga im Juni nur knapp.

Das Turnteam Linden um die engagierten Familien Weber und Pfeiffer reiht sich im November im Mittelfeld der 2. Bundesliga Nord ein.

Und die Gießen Golden Dragons behaupten sich souverän in der zweithöchsten deutschen Football Liga, schließen die Saison im August mit einem Heimsieg vor 500 Zuschauern ab.

Schweifen wir kurz über, vom reinen Ergebnissport hin zum so wichtigen Fundament unserer Gesellschaft: dem Breitensport.

Haben wir im Gießener Raum nicht hervorragende Ehrenamtler? Exemplarisch für so viele Familien, die Vereine stützen und tragen, stehen die Balsers in Heuchelheim: Vater Thorsten und Tochter Lea prägen die Fußball-Kultur der insgesamt über 2300 mitgliederstarken TSF.

Ein Verein, der rein von der Wucht an Mitgliedern »konkurriert« mit einem TV Watzenborn-Steinberg, der in diesem Jahr sogar gewachsen ist, über 1600 Anhänger vorweist und mit geführt wird von einer 33-Jährigen, die beweist, dass Führungskraft nicht immer alt sein muss und zugleich menschlich-innovativ sein kann: Laura Schäfer.

Offen gesteht die junge Ehrenamtlerin im Gespräch, wie kräftezehrend 2022 war: »Du warst ständig damit beschäftigt, den Spielbetrieb am Laufen zu halten: Gruppen nach der Pandemie neu zusammenstellen, Hallenzeiten klären, neue Trainer finden. Das war anstrengend. Den Verein für die Zukunft aufzustellen, war kaum möglich. Ich brauche zwischen den Jahren dringend eine Pause.«

Klar kommuniziert im November 2022 auch Mehmet Tanriverdi die Herausforderungen für Vereine in diesen Zeiten: »Wir rechnen mit rund 15 000 Euro Mehrkosten durch die gestiegenen Energiepreise«, erklärt der Vorsitzende des MTV 1846 Gießen - einem Verein, der seinen über 2300 Mitgliedern am Heegstrauchweg neben den Klassikern auch Floorball, Quidditch oder Streetworkout anbietet.

Gründergeist der Universitätsstadt auch im Sport etablieren: Vorreiter für moderne Projekte und Ideen

Ein großes Paket, das der Gießener Sport da schnürt - mit Inhalt gefüllt wird es auch von Trainer-Unikaten, die die Region seit Langem prägen.

Da gibt es einen Michael Anderl aus Kinzenbach, der seit 2008 Headcoach der Gießen Golden Dragons ist. Da gibt es einen Uwe Hermann aus Linden, der seit über 17 Jahren als Cheftrainer des TV Wetzlar Schwimmtalente der Region zu Spitzenleistungen treibt. Und da gibt es einen 28 Jahre jungen Timo Dittmann aus Gießen, der vom Hessischen Tennisverband zum Trainer des Jahres 2022 gekürt wird und der beim TC Wettenberg zeigt, dass frische Ideen fruchten können.

Vielleicht gelingt es uns, auch im Sport den Gründergeist der Universitätsstadt zu leben. Ein Vorreiter zu werden für moderne Projekte und Denkmodelle. Dittmann: »Vereinen würde ein Club-Manager helfen.«

Gießens wuchtige Studentenanteil von über 40 Prozent kann vom heimischen Sport effektiver genutzt werden - die Stadtpolitik ihrerseits darf den Sport in seiner Gesamtkraft ernster nehmen und als Chance sehen.

In einem Imagefilm der Region Mittelhessen sagt Poetry Slammer Lars Ruppel: »Tüftler, Denker und Talente, Mittelhessen geht voran. Schläft ein Lied in allen Dingen, dann erwacht es hier und klingt, weil ein Chor aus vielen Stimmen dieses Lied gemeinsam singt. Viele Teile, eine Einheit - niemand steht für sich allein. Jeder Ort und jeder Mensch kann hier ein Ort des Ganzen sein.«

Jedes Kaff hat seine Kraft und trägt zum großen Ganzen bei. Gießen ist keine Glamourstadt, Gießen ist vor allem eines: echt. Vielleicht interpretieren wir 3G neu: Großes, gemeinsames Gießen. Zeit, Gießen zu sein - Zeit, gemeinsam zu sein - Zeit, groß zu sein.

Oft wird betont, der Region würden die Big Player fehlen. Ist das so? Oder ist es bloß an der Zeit, Kräfte zu bündeln?

Gießen hat großartige Unternehmer - angefangen mit Christiane Roth, die als Geschäftsführerin von Roth Energie die Sportlandschaft kräftigst fördert, fortgeführt mit einem Günter Hühn, der auch dank dem Gerüstbau dafür sorgt, dass der FSV Fernwald mit einem Gießener Ensemble die viertbeste Fußball-Mannschaft in Hessen stellt, und exemplarisch als Triple vollendet mit der Käserei Birkenstock, die Spitzenhandball in Hüttenberg seit Jahrzehnten mit ermöglicht.

Wenn wir all das zusammenbringen - können wir dann nicht sagen, dass wir hierzulande in einer ziemlich geilen Sportregion leben?

In einer Region, die ziemlich viel zu bieten hat - und die sich selbstbewusster zeigen darf. Ein herausforderendes Jahr 2022 geht zu Ende. Kann 2023 noch besser werden? Ja, sage ich - wenn wir anfangen, Gießen und seine ganze Umgebung gemeinsam groß zu denken.



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