Soll ich für das Foto rumschreien, so wie alle das von mir erwarten?«, fragt Uwe Hermann, während er am Beckenrand des Wetzlarer Europabades steht. »Ich kenne meinen Ruf: Ich bin eine streitbare Person: Offen, direkt und ehrlich.«
Der Trainer des TV Wetzlar, Unikat im heimischen Schwimmsport, sagt: »Viele sehen in mir nur den harten Hund. Sie sehen nicht, dass ich mit den Kindern auch ins Kino gehe, dass ich mit ihnen ins Outlet Center shoppen gehe oder am Schokobrunnen zusammensitze. Ich bin Seelentröster und Lebensberater in einem.«
Antreiber für seine Sportlerinnen und Sportler, Anker für den TV Wetzlar, Angriffsfläche für Außenstehende: Uwe Hermann, 43 Jahre alt, wohnhaft in Leihgestern, ist eine Reizfigur. »Als ich vor 18 Jahren hierher kam, hatte der Verein keinen Wettkampfschwimmer.« Jetzt umfasst die Leistungsgruppe des TV Wetzlar über 50 Schwimmer. »Der Verein hatte einen Etat von unter 1000 Mark. Jetzt liegen wir bei rund 60 000 Euro.«
Hermann treibt seine Athleten zu Höchstleistungen: Hessische, Süddeutsche und Deutsche Jahrgangsmeisterschaften werden regelmäßig von heimischen Athleten besucht. Im Juni 2022 holte die 4x200-Meter-Freistil-Staffel im Mixed Bronze bei den Deutschen Meisterschaften.
Hermann ist das Zugpferd dieser Entwicklung. Unverhohlen gibt er zu: »Ich mache meine Sache ziemlich gut. Ich habe auch Versagensängste, aber ich weiß, dass ich es am Ende richtig gut machen werde.«
Der Lindener ist ein sich selbst antreibendes Energiebündel. Er steht morgens um fünf Uhr auf und geht abends um 23 Uhr ins Bett. »Ich richte mein Leben so aus, dass ich erfolgreich bin. Ich investiere mehr als andere. Und ich akzeptiere kein Nein.«
Seit 2020 ist Hermann Vorsitzender der Deutschen Schwimmjugend - ein Posten mit Reichweite und Reputation. Bei den Stadtwerken Gießen ist er seit 2015 unbefristet als Fachangestellter für Bäderbetriebe angestellt und zählt zum Betriebsrat.
In Kooperation mit der Stadt Wetzlar hat er mit zwei weiteren Übungsleitern seit 2011 rund 1600 Kinder in Anfängerkursen an das Schwimmen herangeführt: »Knapp 1100 von ihnen haben das Seepferdchen geschafft.« Zudem führt Hermann einen Badeshop in Heuchelheim, mit dem er an den Wochenenden als fliegender Händler oft in Deutschlands Hallenbädern unterwegs ist. Uwe Hermann ist der Mann in Mittelhessen, wenn es um Leistungsschwimmen geht. Wie tickt dieser Mann?
Wir treffen Uwe Hermann am Faschingsdienstag. Dort sagt er: »Es gibt die starke Figur Uwe Hermann nach außen und die verletzliche Seite nach innen.« Beide Teile werden an diesem Februar-Abend deutlich.
Die Leistungsgruppe des TVW umfasst Kinder und Jugendliche aus den Regionen Marburg, Gießen und Wetzlar, ebenso wie aus Großkrotzenburg, Fulda oder Usingen. Eingereiste aus Mexiko, Tschechien und Rumänien gesellen sich zum ambitionierten Tross im Europabad.
Der schulfreie Faschingsdienstag wird dazu genutzt, einen kompletten Trainingstag einzulegen: Drei Einheiten, im vereinseigenen Fitnessstudio und im Schwimmbad. Als die Gruppe gegen 18 Uhr aus dem Becken steigt, sagt Hermann: »Bis morgen, Nullsechshundert!« Um sechs Uhr am nächsten Morgen geht es weiter. »Im Leistungssport musst du an der Grenze arbeien und auch ein harter Hund sein«, sagt der Übungsleiter.
»Es gibt immer zwei Varianten. Die einen warten bis kurz vor zwölf und legen dann los. Die anderen, zu denen gehöre ich, geben ab sechs Uhr morgens Vollgas und schauen dann um sieben Uhr, wie es weitergeht. Ich will das Produkt beim TV Wetzlar immer besser machen.«
Reinhard Felten war 36 Jahre lang Abteilungsleiter Schwimmen. Er war es, der Hermann beim TVW installierte und zu seiner Vertrauensperson wurde. Der in Ruttershausen lebende Felten sagt: »Uwe ist eine Ausnahmeerscheinung. Und Ausnahmeerscheinungen bieten immer auch Angriffsfläche. Er legt ein Engagement an den Tag, das weit über das Normale hinausgeht. Er hat alle Zeiten von seinen Sportlern im Kopf. Das ist phänomenal. Er hat ein riesiges Netzwerk. Wenn Sie mich fragen, hat er ein paar Baustellen zu viel. Der Tag hat nur 24 Stunden. Etwas Regeneration würde ihm auch mal guttun.«
Die verletzliche Seite von Hermann zeigt sich, als der Trainer über seine abwandernden Schützlinge spricht. »Schauen Sie, wir haben hier heute drei Bahnen zur Verfügung. Links schwimmen die Jüngsten, in der Mitte die Ambitionierten und rechts die Ältesten, die Leistungsstärksten. Von denen hören manche nach dem Abitur bald auf. Und dann wandern langsam alle eine Bahn weiter nach rechts. Das ist emotional schwierig für mich. Immer wieder.«
So beendete der Wettenberger Niklas Römer, mehrfacher Bronzegewinner bei den Deutschen Jahrgangsmeisterschaften, vor wenigen Tagen im Alter von 18 Jahren seine Laufbahn. »Ich war mit ihm in Berlin, als mein Sohn gleichzeitig zuhause seinen sechsten Geburtstag feierte. Mich schmerzt jeder Athlet der aufhört. Es fühlt sich jedes Mal so an, als ob auch ein Teil von mir geht.«
Das wird daran liegen, dass Uwe Hermann mehr Zeit mit seinen Athleten als mit seiner Familie verbringt. Das Hallenbad ist seit jeher sein Zuhause. »Es war von Anfang an eine absolute Liebesbeziehung.«
Vater Theo Hermann arbeitet als Bademeister in Dillenburg. »Ich hatte immer das Gefühl: Wenn meine Mutter nicht wusste, wohin mit mir, hat sie mich ins Schwimmbad zu meinem Vater gebracht. Dort fand ich’s total geil. Wenn uns Kindern kalt war, bin ich zu Papa gegangen und hab ihn gefragt, ob er das Wasser wärmer stellen kann. Ein paar Minuten später war das Wasser für uns gefühlt dann wirklich wärmer.«
Uwe Hermann wurde unter anderem Hessischer Jahrgangsmeister und begann als 15-Jähriger seine Übungsleiter-Laufbahn. 2000 wechselte er zur KSG Bieber, zog 2002 nach Fellingshausen. Der gelernte Industriekaufmann jobbte ab 2004 im Sommer als aushelfender Bademeister im Freibad an der Ringallee, ehe 2015 die unbefristete Anstellung folgte: Im Sommer in Vollzeit, im Winter in Teilzeit.
Uwe Hermann zählt zu jenen Menschen, die hart mit sich selbst und anderen ins Gericht gehen. Er bewegt sich an der Grenze, überschreitet sie zuweilen. »Die einzigen freien Tage im Jahr sind für mich Weihnachten und Silvester. Wobei: Ich habe ja eigentlich immer frei. Ich arbeite im Schwimmbad...«
Problemlos und an der Schnur gezogen zählt er jedes verplante Wochenende von Anfang Januar bis Ende April 2023 mit Event und Hintergrund auf.
Für den TV Wetzlar dirigiert er Wettkämpfe, bucht Hotels, sorgt für den Transport, erstellt die Trainingspläne und verschickt einmal wöchentlich eine Übersichts-Mail an die rund 230 Abteilungsmitglieder. Er ist Ansprechpartner für Neuankömmlinge, Eltern und Sportler. Hermann betreibt die sozialen Kanäle und umtriebige Medienarbeit, er organisiert Trainingslager und Wettkämpfe wie das Frühjahrsschwimmfest, das im Schnitt über 3000 Meldungen aufweist und 2020 zum größten Schwimmwettbewerb in Deutschland zählte.
Dabei holt er dann auch mal Norweger spontan vom Frankfurter Flughafen ab. Seine Sportler fährt er nach dem Morgentraining gegen 7.25 Uhr mit dem Vereinsbus zur Schule, ehe er seinen Job antritt. Hermann lebt für seine Athleten.
Für die Deutsche Schwimmjugend investiert er wöchentlich 20 Stunden ehrenamtliche Arbeit in Online-Meetings, beim Netzwerken und beim Begleiten auf internationale Events wie im Sommer 2022 in Rom. »Das muss einfach sein«, sagt er.
Seine Tage sind getaktet: »Ich mag das. Es gibt mir Struktur. Viel Zeit zu haben, kann ich nicht abhaben. In der Pandemie bin ich in den ersten Tagen fast durchgedreht. Nach einigen Tagen war ich dann aber super dankbar dafür, so viel Zeit mit meiner Familie verbringen zu können. Unsere längste gemeinsame Radtour mit den beiden Kleinen waren 60 Kilometer.«
Typisch: Eine Anekdote mit Wettkampfcharakter findet sich in den Erzählungen von Uwe Hermann in jedem zweiten Satz. Der Ehrgeizige strebt nach Anerkennung, die er sich selbst innerlich oft verwehrt. Seinen beiden Kindern, Nele (6) und Noah (8), das betont Hermann, versucht er diese Anerkennung jeden Tag zu geben. »Ohne meine Frau Kristina könnte ich all das nicht. Sie hält mir den Rücken frei. Ich weiß das unglaublich zu schätzen.« Kennen lernte er seine Frau, wie soll es anders sein, in seinem Badeshop: »Sie kaufte immer einen Badeanzug und eine Badehose für ihren Freund - als sie eines Tages nur noch einen Badeanzug für sich kaufte, ergriff ich meine Chance«, sagt Hermann und muss laut lachen.
Er lacht gerne: »Ich bin ein positiver, optimistischer Mensch«. Drei Dinge seien sicher, sagt er zum Ende des Gesprächs im italienischen Restaurant mit Blick aufs Becken: »Das Wasser ist nass, 50 Meter bleiben 50 Meter und Kinder kommen und Kinder gehen. Das ist eben so.« Schon jetzt sei ihm klar: »Ich kann das Emotionale nicht abschalten. Jedes Kind hier ist für mich wie ein halbes eigenes Kind.«