Der Sport ächzt unter den Beschränkungen in der Corona-Pandemie. Der ganze Sport? Nun, es gibt eine Disziplin, die im Lockdown sogar einen Boom erlebt hat - zumindest in ihrer Online-Variante. Die Rede ist vom Schach, dem anderthalb Jahrtausende alten »Spiel der Könige«, dem alleine in Deutschland knapp 100 000 Vereinsspieler frönen, dazu Abertausende nicht organisierte Begeisterte. »Online-Schach wird definitiv um ein Vielfaches mehr gespielt als noch vor einem Jahr«, sagt Ullrich Krause, Präsident des Deutschen Schachbundes. In Corona-Zeiten, wo auch die Schach-Bundesliga pausieren müsse, habe geholfen, dass man Schach schon seit 20 Jahren übers Internet spielen könne.
Was den Sport so faszinierend macht? Warum er noch immer eine Männerdomäne ist? Und was einem Schach fürs Leben lehren kann? Darüber hat Ludwig Krammer mit einer Expertin gesprochen, die einst selbst in der europäischen Spitze spielte, die Münchner Schachakademie mitgründete und inzwischen als Schachlehrerin in einer internationalen Schule in Singapur arbeitet: Dijana Dengler (54).
Frau Dengler, ist Schach in Ihren Augen ein Gewinner der Corona-Krise?
Auf jeden Fall. Klar leiden die Vereine, weil aktuell immer noch kein Präsenzbetrieb möglich ist. Aber der Sport an sich hat ungemein an Beliebtheit gewonnen im letzten Jahr. Ich habe noch nie zuvor so viele Anfragen bekommen von Leuten, die Schach lernen wollen. Viele haben erst jetzt erfahren, was es online für Möglichkeiten gibt. Es gibt Schach-Apps, mit denen man parallel chatten kann, Großeltern können mit ihren Enkeln spielen und sich währenddessen über die Kamera sehen. Man kann simultan gegen mehrere Gegner spielen, verschiedene Varianten wie »eat me« (Räuberschach), Atomschach oder Fischerschach (Chess-960). Dazu gibt es die Möglichkeit, online bei Turnieren zuzuschauen mit richtig guten Kommentatoren, die das Ganze mit ansteckender Begeisterung auch für Nicht-Experten verständlich rüberbringen. Die Vielfalt ist unglaublich.
Ihren Teil zum Boom beigetragen haben dürfte auch die vielfach prämierte Netflix-Serie »Das Damengambit«, in der die Geschichte eines hochbegabten Mädchens erzählt wird. Wie ist die Serie in Schachkreisen angekommen?
Ich fand sie ganz hervorragend und wage zu behaupten, dass die große Mehrheit der Schachprofis das genauso sieht. Die Faszination des Spiels kam sehr gut rüber, die Visualisierung von Beths Zügen an der Decke des Schlafsaals - das war wirklich toll animiert. Ich kenne auch viele Frauen, die begeistert waren vom Ambiente, von der Mode der 60er Jahre. Das verbreitete Bild vom Schach ist ja noch immer das von zwei Männern, die sich schweigend gegenübersitzen, vielleicht mit einer Zigarre und einem Glas Rotwein. Ziemlich staubig alles. »Queen’s Gambit« hat gezeigt, dass Schach schick sein kann, es wurde smart präsentiert. Auch hier in Singapur war die Serie auf Platz eins der Netflix-Charts. Soweit ich gelesen habe, in über 60 Ländern! Das hat dem Schach ganz sicher einen Schub gegeben.
Was kann man durch Schach fürs Leben lernen?
Sehr viel. Wo soll ich da anfangen? (lacht) Was mich fasziniert, ist der Perspektivwechsel. Es ist nicht nur wichtig, was ich denke, sondern genauso wichtig, was der andere denkt. Wir neigen ja leider oft dazu, nur uns selbst zu folgen. Schach lehrt uns, Situationen durch die Augen des anderen zu sehen, auch im Leben. Dazu lernt man, ein Ziel in Teilziele zu zerlegen und dann konsequent zu verfolgen, Ideen zu entwickeln und sie planvoll umzusetzen. Erst zu sehen und zu denken, dann erst zu handeln. Ganz wichtig ist auch das Rückwärtsdenken. Man sieht eine Matt-Stellung und fragt sich: Was muss davor passiert sein? Das lässt sich ins Leben als Reflexion übersetzen. Ein Schachspieler kann es gar nicht erwarten, seine Partien hinterher zu analysieren. So appellieren wir auch an die Kinder, wenn sie ihre Schulaufgaben zurückbekommen: Schaut genau hin, was warum nicht gepasst hat. Wie im Schach: Entweder du gewinnst, oder du lernst.
Sie haben die Kinder angesprochen. In Singapur an der Overseas Family School, wo Sie arbeiten, ist Schach ein Schulfach. Wie muss man sich den Unterricht vorstellen?
Wir beginnen immer mit einer kurzen Meditation, einfachen Atemübungen. Danach ist das Programm je nach Jahrgangsstufe unterschiedlich. Bis zur 5. Klasse gibt es eine Stunde pro Woche, da geht es eher um die Grundlagen des Schachs. Wir machen spielerische Konzentrationsübungen. Zum Beispiel zeige ich eine Stellung: Matt in einem Zug, alle prägen sich das Bild ein, nach drei Minuten decke ich das Brett mit einem Tuch zu. Dann werfe ich einen Ball. Wer ihn fängt, darf sagen, wo die einzelnen Figuren stehen. Ich habe Erstklässler so trainiert, dass sie nach kurzer Zeit in der Lage waren, das ganze Brett zu visualisieren und Züge vor dem inneren Auge auszuführen. Das ist ein wunderbares Gedächtnistraining. In der Mittel- und Oberstufe haben wir eine Stunde mehr und steigen tiefer in die Analyse ein, behandeln Taktiken und Strategien aus berühmten Partien, lösen kompliziertere Matt-Aufgaben. Zum Abschluss der Stunden gibt es immer ein paar Schachyoga-Übungen, Stretching. Und mit den Kleinen singen wir zur Verabschiedung normalerweise unseren Song »Queens and Kings«. Zurzeit müssen wir wegen der Corona-Vorschriften leider darauf verzichten.
Wie sind Sie als Kind zum Schach gekommen?
Über meine Mutter, zu Hause in Bosnien. Sie hat es meinem Bruder Robert beigebracht, der sechs Jahre älter ist als ich. Wir haben von Anfang an mit Uhr gespielt, Schach war praktisch unser Familienspiel: Mama und ich gegen Robert und Papa - das hat mehr Spaß gemacht als Monopoly (lacht).
Schach ist noch immer eine Männerdomäne. Warum gibt es im Vergleich so wenige Spitzenspielerinnen?
Darf ich etwas ausholen? Als ich mit Schach angefangen habe, war ich das einzige Mädchen bei uns im Umkreis. Bei meinem ersten Turnier habe ich alle Partien verloren und musste mir hinterher anhören, dass Mädchen das nicht könnten, weil sie ja ein kleineres Gehirn hätten. Das hat mich so geärgert, dass ich ein Jahr geübt habe wie verrückt. Beim nächsten Turnier habe ich alle geschlagen. Da war Ruhe. Jahrzehnte später bei einem Schnellschach-Turnier in Nürnberg hat mich der Turnierdirektor bei der Begrüßung lächelnd darüber informiert, dass mir der Damenpreis schon sicher sei, weil ich die einzige Teilnehmerin wäre. Ich habe das Turnier gewonnen und den Männerpreis, das Geld, abgeräumt. Der Direktor war knallrot im Gesicht bei der Siegerehrung, das werde ich nie vergessen.
Und heutzutage?
Ja, die eigentliche Frage. Warum so wenig Weltklasse-Spielerinnen? Es ist eine Frage der Quantität. Wenn viel mehr Männer professionell spielen, dann kommen auch mehr in der absoluten Weltspitze an. Richtig attraktiv wird es, wenn man die ersten Turniere gewinnt. Dann muss man dranbleiben, beißen. Dass es für eine Frau möglich ist, mit entsprechender Förderung ganz nach oben zu kommen, hat das Beispiel Judit Polgar bewiesen. Sie hat in ihrer Karriere alle Weltmeister geschlagen. Aber auch bei ihr kam der Punkt, wo sie Kinder bekommen hat. Das ändert bei Frauen die Denkweise, der Fokus verschiebt sich. Polgar war auch später noch sehr gut, aber es wurde schwieriger, den Anschluss zu halten. Schach auf Weltklasse-Niveau erfordert mehr als sechs Stunden tägliches Training. Männer werden teilweise besser, wenn sie eine Familie haben, weil sie dann ein geregeltes Leben haben und sich noch mehr auf Schach konzentrieren können.
Was sagen Sie Leuten, die behaupten, Schach sei kein echter Sport?
Dass sie sich irren. Schach erfüllt sämtliche Kriterien des Sports. Es ist ein Kampf zwischen zwei Personen oder Teams unter Ausschaltung des Zufalls. Man hat dieselbe Nervosität, denselben Druck. Es gibt meines Wissens keine andere Sportart, in der sich Frauen so gut mit Männern messen können und unterschiedliche Altersgruppen auf Augenhöhe gegeneinander antreten können. Und zum körperlichen Argument: Ich habe bei meinen Turnieren jedes Mal zwischen vier und fünf Kilo abgenommen. Im Sitzen. Der Energieverbrauch ist enorm. Ab einem gewissen Niveau geht heutzutage gar nichts mehr ohne körperliche Fitness. Vor 50, 60 Jahren ging das vielleicht noch anders, mit Alkohol am Vorabend und so. Heute: keine Chance. Mentale Ausdauer erfordert physische Ausdauer.
Welche Großmeister haben sie am meisten inspiriert?
Bobby Fischer war der Anfang von allem für mich. Und dann kam Michail Tal (lettisch-sowjetischer Weltmeister 1960-61). Seine Taktikvarianten liebe ich bis heute. Natürlich habe ich auch Garri Kasparow bewundert oder jetzt Magnus Carlsen. Er spielt wunderschöne Opfer und ist auch fehlbar. Man sieht die Partien und sagt: wow! Schach hat sich extrem verändert in den letzten 20 Jahren. Die jungen Weltklassespieler spielen wie Maschinen. Unfassbar schnell.
Apropos Maschinen: Hat Schach für Sie an Reiz verloren, als Kasparow als Weltmeister 1997 einen Wettkampf über sechs Partien gegen den IBM-Supercomputer Deep Blue verlor?
Eigentlich nicht. Durch den Computer haben wir die Möglichkeit bekommen, uns besser und effektiver vorzubereiten. Ich habe den Computer immer als Freund empfunden, der uns einen Push gegeben hat und enorme Hilfestellung beim Analysieren.
Manche Philosophen haben Kasparows Niederlage als Zeitenwende gedeutet.
Deep Blue hat in erster Linie gerechnet. Da war kein kreativer Funke. Mit AlphaZero ist es jetzt was anderes. Diese Software funktioniert autodidaktisch, sie bringt sich das Spiel durch Learning by doing selbst bei und entwickelt quasi eine Art Intuition. Wenn ein Computer wie ein Mensch denkt, nicht mehr bei jedem Zug alles durchrechnet, sondern nach negativer Selektion vorgeht, dann kann ich die Skeptiker und Philosophen verstehen. Trotzdem wird für mich der Reiz immer bleiben. Alleine schon dadurch, dass keine Partie der anderen gleicht. Schach ist so komplex wie das Leben.