13. August 2021, 14:39 Uhr

KLAPPENTEXT

Gibt’s ein Leben vor dem Tod?!

Ihr Twitter-Account ist schon lange ein Hit, ihre Bücher sind es auch: Melissa Broder hat ihren zweiten Roman geschrieben. Er handelt von lesbischem Begehren, Körperwahn und Judentum. Dass sich diese ernsten Themen locker und witzig lesen, ist Broders großes Talent.
13. August 2021, 14:39 Uhr
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Von Katrin Hanitsch

Eigentlich sieht die Aufteilung auf dieser Seite ja so aus: Die Bücher für die Erwachsenen behandeln ernsthafte, gewichtige Themen, Gräueltaten aus der Vergangenheit, schwere Schicksale aus der Gegenwart. Und die Kinderbücher entführen uns in fantastische Welten oder bringen uns zum Lachen. Heute ist es umgekehrt. Während die Romane witzig bis absurd sind, widmet sich der Kinderbuchtipp einem ernsten Thema, von dem man sich wünscht, kein Kind müsste sich damit befassen. Doch Autorin Anne Gröger ist ein mutiges Werk zum Thema Tod gelungen, das unsere Kinderbuchexpertin Maren in den höchsten Tönen lobt. kan

Samuel ist schon elf, aber wegen einer Immunschwäche verbringt er sein ganzes Leben im Krankenhaus. Stolz blickt er auf eine Palette von sieben »Ich hab überlebt«-Medaillen. Damit ist er Sieger. Sein bester Freund Tobi hat nur sechs Medaillen geschafft…

Als Samuel nach einer Stammzellentransplantation als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen wird, taucht eine kleine Gestalt in schwarzer Kutte bei ihm auf und stellt sich ihm als kleiner Tod vor. Oder Frida. Bevor sie richtig in ihren Job einsteigen kann, soll sie lernen, wie Menschen leben und fühlen. Und sie soll Samuel holen. Ungeduldig überlegt sie, ob man dieses »Holen« nicht beschleunigen kann. So entspinnt sich ein sehr abwechslungsreicher Wettstreit, denn der übervorsichtige Samuel geht jeder Gefahr aus dem Weg, während Frida versucht, ihn auf den Spielplatz zu locken (sind Wippen tödlich?), ihn mit Pilzsuppe zu füttern (sind Pilze nicht giftig?) oder ihn zu einem Bad im See zu verleiten (er kann nicht schwimmen).

Während Frida nur widerwillig einsieht, dass ihr Job so nicht funktioniert, freundet sie sich immer mehr mit Samuel an. Das größte Abenteuer aber steht noch bevor: Samuel hatte Tobi versprochen, allein den Berg zu besteigen, den sie eigentlich gemeinsam erkunden wollten. Als er endlich oben ist, zieht ein furchtbares Gewitter auf…

Mit dem Tod setzt sich niemand gern auseinander. Die freche Frida indes hat es in sich, und Anne Grögers Botschaft ist, dass man den Tod nicht zu fürchten braucht, solange man nur vorher versucht, etwas aus seinem Leben zu machen. Mutig, ungewöhnlich und mit einem überraschenden Ende ein wirklich lesenswertes Kinderbuch, empfiehlt euch heute eure Maren

Anne Gröger: Hey, ich bin der kleine Tod - Aber du kannst auch Frida zu mir sagen. Bilder von Fréderic Bertrand. München: dtv, 2021. 203 Seiten. 12,95 Euro. Ab 10 Jahre.

Den Arbeitsplatz in der eigenen Wohnung zu haben und nicht jeden Tag in die Firma fahren zu müssen - das galt vielen Büroangestellten lange Zeit als erstrebenswerter Zustand. In der Corona-Pandemie ist dieser Traum für viele Menschen Realität geworden und entpuppt sich oft als gar nicht so traumhaft wie gedacht. Was einem alles im Homeoffice passieren kann, erzählt Autor Mark Spörrle in amüsanten Episoden in seinem neuen Büchlein »Unten ohne - Geschichten aus dem Homeoffice«.

Der Erzähler muss kurzfristig seine Arbeitstage in die heimische Wohnung verlagern, wo sich auch seine Frau und die schulpflichtige Tochter einrichten. Hatte er sich zu Anfang noch gefreut, ohne Arbeitsweg und ohne nervige Kollegen auszukommen, sieht er sich schnell vor neue Herausforderungen gestellt. Er muss sich erst an die Regeln und heimtückischen Fallen von Videokonferenzen gewöhnen, merkt, wie abhängig er von der Qualität des Internets ist, und dass es nicht nur Vorteile hat, immer zu Hause zu sein.

Autor Mark Spörrle erzählt die kurzen Episoden mit leichter Hand und einer gehörigen Portion Selbstironie.

Logik wird zur Nebensache

Auf die Mittelmeerinsel Sardinien führt das zweite Buch, dass hier vorgestellt wird, der Roman mit dem ungewöhnlichen Titel »Die Theologie des Wildschweins« von Gesuino Némus. Während im Sommer 1969 zum ersten Mal Menschen auf dem Mond landen, ist in einem kleinen sardischen Bergdorf überhaupt nichts von der Moderne angekommen. Die Menschen führen ihre kargen Leben und bilden eine eng verschworene Gemeinschaft. Das bekommt auch der Dorfpolizist zu spüren, der vom Festland auf die Insel versetzt worden ist und nie einen Täter überführen kann.

Sein neuester Fall nimmt seinen Lauf, als einer der örtlichen Hirten erst verschwindet und dann seine Leiche gefunden wird. Auch sein hochbegabter Sohn verschwindet spurlos. Der Polizist steht vor einem Rätsel, das vielleicht der Dorfpfarrer lösen könnte, aber ob er dazu bereit ist, bleibt eine offene Frage.

Noch verwirrender wird das Ganze, als ein Mann im Dorf auftaucht, der ausgerechnet Gesuino Némus heißt. Auch er weiß viel, sagt aber nichts. Sardinien und die Eigenarten seiner Menschen stehen im Mittelpunkt dieses ungewöhnlichen und amüsanten Romans. Die Handlung und ihre Logik werden dabei bald zur Nebensache. dpa

Mark Spörrle: Unten ohne. Geschichten aus dem Homeoffice. Heyne Verlag, München, 186 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-453-42 609 -2

Gesuino Nemus: Die Theologie des Wildschweins. Eisele Verlag, München, 284 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-96 161 -098-3

Dass es in der Literatur eine Auszeichnung für die schlechtesten Sexszenen gibt, hat einen Grund. Zu oft wirken die Beschreibungen unbeholfen, unrealistisch oder unfreiwillig komisch. Da rollt sich das Paar »in einen kichernden Schneeball vollschlanker Kopulation« (Morrissey) oder der Penis wird als »stoßender Kolben« beschrieben (Norman Mailer).

Umso ungewöhnlicher ist es, wenn eine literarische Sexszene tatsächlich gelingt. Und jetzt die gute Nachricht: Melissa Broders neuer Roman »Muttermilch«, der von einer Beziehung zwischen zwei Frauen handelt, ist voll von solchen.

Originelle und witzige Geschichte

Broder wurde 1979 in Pennsylvania geboren und ist quasi eine frühere Vertreterin der Millennials. Auf ihrem berühmten Twitter-Account »So Sad Today« (eine Million Follower) teilt Broder mehrmals täglich ihre Gemütszustände mit der Welt. Lakonisch schreibt sie über Depressionen oder Einsamkeit - ähnliche Zustände, die auch ihre Figuren beschäftigen.

So auch in ihrem zweiten Roman »Muttermilch«, der in den USA von der Kritik gefeiert wird. Und das zu Recht: Er erzählt eine originelle und witzige Geschichte über lesbisches Begehren, Körperwahn, Judentum und Familie. Erschienen ist er im Ullstein Verlag, übersetzt von Karen Gerwig.

Rachel arbeitet in einer Talentfirma in Los Angeles und hat eine Essstörung. Sie ist Jüdin, was aber eigentlich keine große Rolle spielt - bis sie Miriam kennenlernt. Miriam ist das Gegenteil von Rachel: dick, genießerisch und jüdisch-orthodox.

Die beiden freunden sich in jenem Frozen-Yogurt-Laden an, den Rachel wegen seiner kalorienarmen Optionen täglich frequentiert. Während der Hunger bisher die Leere in Rachels Leben füllte, weicht er nun nach und nach einer wachsenden Faszination für die maßlose Miriam.

Miriam, die im Yogurt-Laden aushilft, bereitet Rachel ungefragt ausufernde Becher mit unzähligen Toppings und Kalorien zu. Erst widersteht Rachel, wirft das Zeug weg - doch irgendwann gibt sie nach. Mit Entsetzen bemerkt sie, wie sie »von dem Yogurt verzehrt« wird, »alle fünf Sinne in seinen Tropfen und Strudeln badeten«. Der Hunger ist geweckt.

Turbulentes Verhältnis

Und nicht nur das: Auch Rachels Verliebtheit steigert sich, was in wunderbar ausufernden Beschreibungen mündet, etwa vom blassen Gesicht der blonden Miriam: »Alles daran war eine eigene bewohnbare Welt. Ihre Haare hatten die Farbe von Vanilleeis oder Papyrusrollen mit Streifen von Nachtlicht. Ihre Augenbrauen hatten die Farbe von Löwen, von faulen Löwen, die in der Sonne dösten oder nachts mit den Pfoten im Laternenlicht Butter aßen. Ihre Augen: Eisberge für Schiffsunglücke. Wimpern: Rauch und Platin.«

Da Miriam orthodox und somit nicht offen für eine homosexuelle Beziehung ist, müsste die Annäherung an dieser Stelle eigentlich stoppen. Doch zwischen den beiden entwickelt sich ein turbulentes Verhältnis. Miriam stillt Rachels jahrelang unterdrückten Hunger auf buchstäbliche und körperliche Weise, dementsprechend beschreibt die Ich-Erzählerin Miriam genauso lust- und liebevoll wie das Essen, das sie endlich zu sich nimmt.

Aufgeladen mit jüdischer Symbolik

»Die Burritos sahen immer köstlich aus, wie fest in Decken gewickelte warme Babys. Ich wollte einen Burrito nehmen und an meine Wange halten oder ihn mir über die Schulter legen und beruhigen.« Lust und Fürsorge vermischen sich in Rachels Sehnsüchten, sowohl beim Essen als auch in der Liebe. Denn was Rachel eigentlich fehlt, hat sie selbst schon festgestellt: eine liebende Mutter.

Aufgeladen ist Rachels Erleben mit jüdischer Symbolik. Immer wieder fantasiert sie vom Golem, also jener jüdischen Figur, die als Metapher oft für etwas Erschaffenes steht, das außer Kontrolle gerät. Das Zopfbrot Challa lächelt Rachel an und fordert sie zum Tanz auf, die Egg Roll im chinesischen Restaurant scheint Unheil zu verkünden. Das Essen wird Verheißung und Bedrohung zugleich.

Mit Miriam ist es natürlich genauso. Dass es mit ihrer geheimen Affäre so nicht weitergehen kann, wissen die beiden selbst. Doch egal, wie es ausgeht: Der einst so zwanghaften Rachel hat Miriam da bereits die Lust am Essen, am Jüdischsein, im Prinzip am ganzen Leben beigebracht.

Mellisa Broder: Muttermilch, aus dem Amerikanischen übersetzt von Karen Gerwig, Ullstein Verlag, 336 Seiten, ISBN: 9 783 546 100 069, 24 Euro.



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